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Das Nervensystem der Schnecken

Das Nervensystem der Schnecken, wie das aller Weichtiere, unterscheidet sich grundlegend von dem der Wirbeltiere. Weichtiere, mit Ausnahme der höchst entwickelten Kopffüßer (Cephalopoda), besitzen kein Gehirn im streng genommenen Sinne: Stattdessen sind in wichtigen Regionen des Körpers die Zellkörper (Perikaryen) der Nervenzellen in Nervenknoten, den Ganglien, konzentriert. Die Nervenzellen der Weichtiere besitzen keine Markscheide. Es kann daher keine saltatorische Erregungsleitung stattfinden. Stattdessen haben sich bei den hoch entwickelten Kopffüßern Riesenaxone entwickelt, deren großer Querschnitt eine größere Leitungsgeschwindigkeit ermöglicht.

Grundsätzlich kann man das Nervensystem der Weichtiere wahrscheinlich von einem Strickleiternervensystem, ähnlich dem der Ringelwürmer (Annelida) ableiten. Man geht davon aus, dass Weichtiere und Ringelwürmer zumindest gemeinsame Vorfahren hatten. Das Nervensystem der Weichtiere, ebenso wie das der Ringelwürmer, liegt auf der Bauchseite der Tiere (die so genannten Gastroneuralia) und zumindest bei urtümlicheren Weichtieren kann man noch Überreste einer metameren (segmentalen) Gliederung des Nervensystems erkennen.

 

Bei den Schnecken befinden sich die Ganglien ursprünglich im Körper verteilt. Als Überrest des Strickleiternervensystems sind die meisten Ganglien paarig. Gleiche Ganglien sind durch Querverbindungen, die so genannten Kommissuren, verbunden. Unterschiedliche Ganglien stehen durch Konnektive in Verbindung. Die wichtigsten Ganglien sind die Cerebralganglien des Kopfes, die Pedalganglien des Fußes, die Pleuralganglien und Parietalganglien des Mantelraums und die Visceralganglien des Eingeweidesacks. Vor den Cerebralganglien liegen die Schlundganglien (Bukkalganglien).

Bild links: Schlundganglien (Bukkalganglien) des Seehasen Aplysia californica. Quelle: Proekt, A.; Wong, J.; Zhurov, Y.; Kozlova, N.; Weiss, K. R.; Brezina, V. (2008) "Predicting Adaptive Behavior in the Environment from Central Nervous System Dynamics". PLoS ONE 3 (11): e3678.

 

Bei den meisten Schneckengruppen sind Cerebral-, Pedal- und Pleuralganglien bereits in einem gemeinsamen Schlundring konzentriert, der nahe des Kopfes den Schlund umgibt: Die Cerebralganglien und Pleuralganglien liegen oberhalb des Schlundes und die Pedalganglien darunter.

Bei den Meeresschnecken befinden sich die Visceral- und Parietalganglien noch an ihrer ursprünglichen Position im Körper und sind durch lange Konnektive mit dem Schlundring verbunden. Man bezeichnet das Nervensystem der Weichtiere als tetraneural, also als Vierstrang-Nervensystem: Ein Paar Konnektive verbindet die Cerebralganglien auf der Bauchseite (ventral) mit den Pedalganglien, ein zweites auf der Rückenseite über die Pleuralganglien mit den Parietal- und Visceralganglien.

Bild rechts: Tetraneurales Nervensystem der Schnecken: 1. und 4. Nervenstrang: Cerebralganglion (CG) - Cerebro-Pleural-Konnektiv (CPlc) - Pleuralganglion (PlG) - Pleuro-Visceral-Konnektiv (PlVc) - Parietalganglion (PaG) - Visceralganglion (VG). 2. und 3. Nervenstrang: Cerebralganglion - Cerebro-Pedal-Konnektiv (CPc) - Pedalganglion (PG). Weitere Ganglien und Nerven: BG: Bukkalganglion. CBc: Cerebro-Bukkal-Konnektiv. Cco: Cerebral-Kommissur. PlPc: Pleuro-Pedal-Konnektiv. Pdco: Pedalkommissur. Bild: Robert Nordsieck.

Von den Cerebralganglien führen Nerven zu den Fühlern und den Augen, zu den Gleichgewichtsorganen (Statocysten), zu den Lippen und zum Penis. Die davor liegenden Schlund- oder Bukkalganglien verschalten Nerven zu Schlund und Speiseröhre (Pharynx), zu den Speicheldrüsen und zum Magen. Die Pedalganglien innervieren den Fußmuskel und die Haut des Fußes. Die Pleuralganglien versorgen den Mantel mit Nerven. Die Parietalganglien innervieren die Kieme und das Osphradium, ein chemo-mechanisches Sinnesorgan in der Mantelhöhle. Die Eingeweideganglien schließlich sind oft zu einem einzelnen Visceralganglion verschmolzen und kontrollieren Nerven zum Darm, zum Anus, zur Haut, zum hinteren Teil des Genitalapparats, zur Niere, zur Mitteldarmdrüse und zum Herz.

 

Im Verlauf der so genannten Torsion, bei der sich Eingeweidesack und Mantel um die Vertikalachse drehen, so dass die ursprünglich hinten liegende Mantelhöhle nach vorne gelangt, drehen sich die Visceralganglien und die Parietalganglien mit. Nach Abschluss der Torsion liegt das vormals rechte Parietalganglion links und das linke rechts. Entsprechend haben sich die vormals parallelen Konnektive zwischen den Parietalganglien und dem Schlundkopf gekreuzt: Man spricht von der so genannten Chiastoneurie oder Streptoneurie (Gekreuznervigkeit). Schneckengruppen, deren Mantelhöhle mit der Kieme sich vor dem Eingeweidesack befindet, bezeichnet man als Vorderkiemerschnecken (Prosobranchia oder Streptoneura).

 

Bild links: Nervensystem eines Vorderkiemers (Prosobranchia). Gelb: Cerebralganglien. Rot: Pleuralganglien. Grün: Pedalganglien. Blau: Parietalganglien. Violett: Visceralganglion. Die Konnektive zwischen Pleural- und Parietalganglien sind infolge der Torsion überkreuzt (Streptoneurie). Quelle: Kaestner, A.: Lehrbuch der Speziellen Zoologie (Gustav Fischer, 1996), verändert.

Bild rechts: Nervensystem einer Lungenschnecke (Pulmonata). Hier sind die Konnektive zwischen Pleural- und Parietalganglien nicht überkreuzt (Euthyneurie), allerdings sind die Ganglien bereits so stark konzentriert, dass sie von der Torsion nicht mehr betroffen sind. Quelle: Kaestner, A.: Lehrbuch der Speziellen Zoologie (Gustav Fischer, 1996), verändert.

Im Verlauf der weiteren Entwicklung der Schnecken, besonders in Zusammenhang mit dem Übergang an Land, fand eine Konzentrierung der Ganglien nahe des Schlundringes statt. Auch bei den Lungenschnecken befindet sich die Mantelhöhle vor dem Eingeweidesack. Allerdings liegt bei ihnen keine Streptoneurie vor, da die Ganglien bereits so weit in Richtung Kopf gewandert waren, dass sie von der Torsion nicht mehr beeinflusst wurden.

Ebenso, wie bei den Lungenschnecken liegt auch bei den meereslebenden Hinterkiemerschnecken (Opisthobranchia) keine Gekreuztnervigkeit vor. Man hat also beide Gruppen als Euthyneura zusammengefasst und den Streptoneura, also den Vorderkiemerschnecken, gegenüber gestellt.

So viele Gemeinsamkeiten Lungenschnecken und Hinterkiemerschnecken aber haben mögen, in dieser Beziehung sind sie grundlegend unterschiedlich: Während bei den Lungenschnecken, wie erwähnt, die Konzentration der Ganglien eine Streptoneurie verhindert hat, war sie in der Evolution der Hinterkiemer vorhanden, hat sich aber nachträglich wieder zurück entwickelt: Im Verlauf der so genannten Detorsion wanderte die Mantelhöhle mit den Kiemen durch eine erneute Rechtsdrehung wieder nach hinten und die gekreuzten Nervenbahnen lagen wieder parallel. Die Ursachen für die Euthyneurie bei Lungenschnecken und Hinterkiemerschnecken sind also grundsätzlich verschieden.