![]() Die "römische" Weinbergschnecke (Helix pomatia). Bild: Robert Nordsieck. |
Die Geschichte der Schneckenzucht ist so gewunden wie das Gehäuse der Tiere selbst – von prähistorischen Speiseabfällen über römische Delikatessenlager bis hin zu schwäbischen Schneckengärten und modernen Delikatessenfarmen. Seit Jahrtausenden sammelt, hält und genießt der Mensch Schnecken – sei es aus Notwendigkeit, religiösem Brauch oder kulinarischer Lust.
Im Lauf der Geschichte entwickelten sich regionale Schwerpunkte: Römer legten cochlearia an, Klöster züchteten Schnecken als Fastenspeise, schwäbische Bauern lieferten Deckelschnecken per Ulmer Schachtel bis nach Wien, und heute experimentieren Gourmetköche mit neuen Rezepten aus kontrollierter Zucht.
Diese Seite erzählt die wechselvolle Geschichte der Schneckennutzung – von der Steinzeit bis zur Slow-Food-Bewegung des 21. Jahrhunderts. Dabei geht es nicht nur um Essgewohnheiten, sondern auch um Wirtschaft, Religion, Regionalidentität und Kulturgeschichte – und nicht zuletzt um das stille Comeback eines oft unterschätzten Weichtiers.
Wirtschaftliche Schneckenzucht.
Plinius d. Ä., Naturalis Historia Buch 9:78: Kurz vor dem Krieg zwischen Caesar und Pompeius richtete Fulvius Hirpinius bei Tarquinii Schneckenparks ein. Er unterschied die Schnecken nach Klassen, indem er sie ge-trennt hielt: – die weißen Schnecken aus der Gegend von Reate – die aus Illyrien, die am größten waren, – die aus Afrika, die sich am zahlreichsten fortpflanzten, – und die von Solitum, denen man den Vorrang gab. Er erfand sogar eine Methode, sie zu mästen, mit eingekoch-tem Wein, Mehl und anderen Nahrungsmitteln, damit die ge-mästeten Schnecken dem Feinschmecker noch ein zusätzliches Vergnügen bieten konnten. |
![]() Plinius d. Ä. (23 - 79 v. Chr.). |
Wikipedia:
Snails as Food: History (englisch).
Wikipedia:
Køkkenmødding (deutsch).
Glyptodon:
Prehistoric Greek Snail Farmers (englisch).
In der Antike wurde die Nutzung systematischer: Die Römer waren vermutlich die ersten, die Schnecken nicht nur sammelten, sondern auch gezielt züchteten. Sie nannten die Tiere cochleae – ebenso wie den Schöpflöffel, dessen Form an die gewundene Schale erinnerte. In sogenannten cochlearia, speziellen Schneckengärten, wurden vor allem Weinbergschnecken (Helix pomatia) und ihre Verwandten mit Milch oder Mehl gemästet, bis sie als Delikatesse auf den Tisch kamen. Varro und später Plinius der Ältere berichten über solche Praktiken und loben die angeblich anregende Wirkung der Tiere.
Mit dem Vordringen des römischen Imperiums verbreiteten sich nicht nur Rezepte, sondern auch Schneckenarten selbst. Die Gefleckte Weinbergschnecke (Cornu aspersum) wurde weit über ihr ursprüngliches mediterranes ozeanisches Verbreitungsgebiet hinaus verschleppt – womöglich bereits in vorrömischer Zeit durch Phönizier und Griechen, sicher aber auch durch römische Legionäre, die Schnecken als Proviant mitführten. Archäologische Funde von Helix-Schalen in Latrinen und Küchenabfällen belegen den Verzehr in weiten Teilen des Reiches – sogar in Britannien, wo Helix pomatia bis heute als "Roman snail" bezeichnet wird.
Gleichzeitig dürfte die zunehmende Rodung der Wälder durch Kelten und Germanen, z.B. während der Landnahmezeit, in Mitteleuropa die Ausbreitung der Weinbergschnecke erst ermöglicht haben: Die entstehenden Waldrand- und Gebüschbiotope bieten bis heute ideale Lebensbedingungen für diese und ähnliche Schnecken.
![]() Schneckenhändler in Indelhausen (Lautertal). |
Mit dem christlich geprägten Weltbild des Mittelalters änderte sich auch der Blick auf die Schnecken – insbesondere ihre kulinarische Verwendbarkeit. Da sie weder als Fleisch noch als Fisch betrachtet wurden, galten sie im klösterlichen Speiseplan als erlaubte Fastenspeise. So wurde die Weinbergschnecke zur Delikatesse hinter Klostermauern – nicht selten begleitet von einem guten Bier. In vielen mittelalterlichen Klöstern wurden eigene Schneckengärten angelegt, in denen die Tiere gehalten und gemästet wurden. Tatsächlich soll im 16. Jahrhundert der Papst Pius V. (1505 - 1572), der sehr gerne Schnecken aß, den Ausspruch getan haben: "Estote pisces in aeternum!" (Ihr möget für alle Zeit Fische sein!), in dem Sinne, dass man von dort an auch während der Fastenzeit immer Schnecken essen dürfe, da Schnecken für immer als Fisch betrachtet würden.
Doch nicht nur Mönche schätzten die genügsamen Weichtiere. Schnecken galten vielerorts auch als "Arme-Leute-Essen". Sie waren nahrhaft, leicht zu sammeln und kostenlos – ein willkommenes Zubrot in Zeiten, in denen Fleisch teuer und oft nur dem Adel vorbehalten war. Besonders in Süddeutschland, etwa im Lautertal auf der Schwäbischen Alb, entstanden in dieser Zeit einfache Formen von Schneckenzucht, bei der Schnecken in umzäunten Gärten gehalten wurden.
![]() Historischer Schneckengarten, von der Fachhochschule Nür- tingen im Rahmen des Albschneck-Projektes gebaut. |
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![]() Deckelschnecken - bereit zur Vermarktung. Bild: Monika Samland, Dt. Institut für Schneckenzucht. |
Die Zucht gewann dadurch an Bedeutung. Während für den Eigenverbrauch das Sammeln und Mästen reichte, wurden für den Verkauf gezielt die größten, geschmackvollsten Tiere selektiert. Bereits im Mittelalter begann man, Schnecken mit aromatischen Kräutern zu füttern – eine frühe Form geschmacklicher Veredelung.
Auch medizinisch fanden Schnecken Verwendung: In der Hausmedizin galten sie als Mittel gegen Husten und Schwindsucht – meist in Form von Sirup aus Schneckenschleim.
![]() Ulmer Schachtel bei Kellheim (Donau). Kupferstich (1839), ![]() |
Von dort aus begann der schwäbische Schneckenzug in Richtung Osten. Zunächst wurden die Schnecken nach Ulm gebracht, wo sie in großen Fässern auf sogenannte Ulmer Schachteln verladen wurden – flache, breite Flussschiffe, die bis nach Wien donauabwärts fuhren. Die "fetten Deckelschnecken" (meist Helix pomatia), ideal für den Transport, wurden so zu einer beliebten Fastenspeise in Klöstern entlang der Donau – und fanden schließlich auch ihren Weg bis an den kaiserlichen Hof der Habsburger.
Der Schneckenhandel florierte: Zeitweise wurden bis zu 500 Tonnen Schnecken pro Jahr verschifft. Der Rückweg der schwäbischen Händler erfolgte zu Fuß – oft mitsamt der in Wien gezeugten Nachkommen, wie es die Legende will. Kein Wunder also, dass man im Volksmund von "Schnecken mit Maultaschendiplom" spricht.
Selbst Napoleon soll bei seinen Feldzügen Schnecken als nahrhafte "natürliche Konserve" mitgeführt haben. Und auch in der französischen Hauptstadt boomte das Geschäft: Noch 1908 verkaufte das kleine Dorf Guttenstein in der Schwäbischen Alb stolze vier Millionen Schnecken nach Paris – zu einem Preis von 4 bis 5 Mark pro Tausend.
Doch mit der Erfindung moderner Konservierungsmethoden ging die Blütezeit des schwäbischen Schneckenhandels langsam zu Ende. Die Schnecken verschwanden von den Märkten – und tauchten stattdessen in Gourmetküchen wieder auf.
![]() Zuchtschnecke im Klee. Bild: Robert Nordsieck. |
In Südosteuropa, etwa in Bulgarien oder der Türkei, werden Speiseschnecken hingegen bis heute in der Natur gesammelt. In der Türkei handelt es sich dabei häufig um die Gestreifte Weinbergschnecke (Helix lucorum) – ein typisches Exportgut für den europäischen Markt. In Italien erfreut sich die deutlich kleinere Grunzschnecke (Cantareus apertus) regionaler Beliebtheit.
![]() Parzellen auf einer Schneckenfarm in Elgg (Schweiz). Bild: Robert Nordsieck. |
In ländlichen Regionen Mitteleuropas erinnern sich manche Betriebe und Gasthäuser wieder an die alte Tradition: Von der Steiermark bis zur Schwäbischen Alb stehen Schnecken wieder öfter auf der Speisekarte – ob als moderne Neuinterpretation oder als "Schneckenknödeln mit Kren und Kraut", wie sie noch im 18. und 19. Jahrhundert üblich waren. Während manche Betriebe traditionelle Methoden anwenden, versuchen andere, moderne Erzeugungsmethoden für einen höheren Profit zu nutzen. Viele angehende Schneckenzuchtbetriebe mussten jedoch auch die Erfahrung machen, dass die Schneckenzucht kein Landwirtschaftszweig ist, der zu einem schnellen Profit führt - bis zu 3 Jahre kann es dauern, bis eine Schneckenzucht Gewinn abwirft. Und selbst dann besteht bei einer Freilandhaltung die immerwährende Bedrohung durch Klima, Fressfeinde und andere Faktoren.
In der Steiermark heißt es übrigens, Schnecken seien "gut für die Männlichkeit". Ob das medizinisch haltbar ist, sei dahingestellt – als Argument gegen die zarte Delikatesse hat sich das aber offenbar nicht erwiesen.
Und wer hätte gedacht, dass die Slow-Food-Bewegung ausgerechnet die Schnecke zu ihrem Symboltier erwählt? Vielleicht, weil sie für Regionalität, Qualität – und für ein gutes Leben ohne Eile steht. Und auch aus ökologischer Sicht ist die Schneckenzucht nicht zu verachten: Schnecken verbrauchen bis zu 85% weniger Biomasse zur Fleischerzeugung, als etwa Rinder oder Schweine.
Karte der Schneckenfarmen in Deutschland und Österreich (neues Fenster).
Auch wenn die industrielle Schneckenzucht heute global vernetzt ist, gibt es Regionen, in denen sich eine besonders reiche Schneckentradition erhalten hat – sei es aus kulinarischen, landschaftlichen oder schlicht aus leidenschaftlichen Gründen.
In Baden-Württemberg, insbesondere auf der Schwäbischen Alb, ist die Tradition der Schneckenzucht bis heute lebendig geblieben. Hier sind es nicht nur historische Wurzeln, die gepflegt werden, sondern auch neue Ansätze:
Auch in Österreich hat sich eine lebendige Schneckenszene entwickelt:
Diese regionalen Besonderheiten zeigen: Die Schneckenzucht lebt
weiter – sei es als wirtschaftlicher Zweig, kulturelles Erbe oder kulinarische
Leidenschaft. Und vielleicht begegnet man ihr ja bald wieder… auf einem
Marktstand, in einem Gasthof – oder im eigenen Garten.